Wolfgang Witte
Konzept
Annäherung - Szenen zur Vereinigung - - ein Videoprojekt mit Jugendlichen in Ost- und West-Berlin in der Nachwendezeit -
Im Winter 1990/91 wurde mit Jugendlichen aus dem Jugendzentrum Treffpunkt Triebwerk im West-Berliner Bezirk Reinickendorf und aus dem Jugendklub Kontaktladen V.I.P. im Ost-Berliner Bezirk Hohenschönhausen das Videoprojekt Annäherung durchgeführt. In jeweils drei Szenen zu ihren Erfahrungen und in gegenseitigen Interviews stellten die Jugendlichen dar, welche Hoffnungen und Befürchtungen sie mit der deutschen Vereinigung verbinden. Neben der unmittelbaren Arbeit mit den Jugendlichen interessierte uns auch die Frage, inwieweit sich Arbeitsansätze, die in der alten Bundesrepublik mit erfahrungsorientierten Medienprojekten entwickelt wurden, für eine politisch motivierte Jugendarbeit, die Jugendlichen aus beiden Teilen Berlins eine Verarbeitung des ersten Jahres deutscher Vereinigung ermöglichen will, nutzen lassen. Vorüberlegungen - zum Konzept von Annäherung Die politische Entwicklung in und um Berlin seit dem 9. November 1989 hat den Alltag und das Selbstgefühl der Jugendlichen in beiden Hälften der Stadt beeinflußt. Im Teil der ehemaligen DDR sahen sich die Jugendlichen mit einem Zusammenbruch des politischen Systems und der gesellschaftlichen Werte konfrontiert, der auch die persönliche Lebensplanung berührte und in Frage stellte. Andererseits eröffneten sich eine Vielzahl von Perspektiven und Anschließend geht es in Ost/West-gemischten Gruppen um Erlebnisse vom 9. November 1989, dem Tag der Mauer-Öffnung. Es werden eine Menge Geschichten und Ein-drücke erzählt. Die überraschende Nachricht, der spontane Aufbruch aus Schule und Arbeitsplatz zur Mauer und in den anderen Teil der Stadt, der überraschende Besuch von Verwandten, der Bummel über den Kudamm. Was kauft man sich vom Begrüßungsgeld? („Katzenfutter!“) Einer erzählt, wie er im Westen seinen Ausweis verloren hat und nicht zurück in den Osten kommt. Der Versuch, die Grenze heimlich von West nach Ost zu überschreiten, scheitert an einem pflichttreuen NVA-Soldaten, der den vermeintlichen Grenzverletzer mit vorgehaltenem Gewehr zur Umkehr zwingt. Nach einer Nacht bei in der Discothek kennengelernten Bekannten gelingt am nächsten Tag die Rückkehr. Die Westler berichten von der Fülle in der Stadt, teils mit Freude und Staunen, teils mit Beklemmung und Ratlosigkeit. Je mehr Geschichten erzählt werden, desto deutlicher werden sich die Personen, die sie zum besten geben. Als gegen Ende des Nachmittags einige der Geschichten - zusammengefaßt in kurzen Spielsequenzen - vorgeführt werden, herrscht eine offene, heitere Stimmung. Adressen werden ausgetauscht, es gibt sogar einige private Verabredungen. Wir haben den Tag mit einer Videoaufzeichnung dokumentiert, von der wir hoffen, daß sie nach den Weihnachtsferien den Einstieg in die eigentliche Projektphase erleichtern wird. Möglichkeiten, deren Realisierbarkeit sich erst noch erweisen mußte. Im Westteil der Stadt prägten Omnipotenzgefühle aufgrund der materiellen Überlegenheit, die Befreiung von der kaum noch wahrgenommenen Mauer sowie der als Überflutung und Bedrohung erlebte Besucherstrom aus der ehemaligen DDR die widersprüchlichen Gefühle und Einstellungen. Hinzu kommt Furcht vor langfristiger ökonomischer Schlechterstellung. Die Unübersichtlichkeit der Situation und der zukünftigen Entwicklung bietet Raum für ebenso widersprüchliche psychosoziale Prozesse. Neben anfangs freundlichem Aufeinanderzugehen und Interesse an dem jeweils Anderen entstanden abschätzige Zuschreibungen und Vorurteile auf beiden Seiten. Hoffnungsvolle Perspektiven entwickelten sich neben Verlustgefühlen, Trauer über das Vergangene und neuen Enttäuschungen. Diese widersprüchlichen Erlebnisse und Gefühle, die Jugendliche besonders stark berühren, finden in der Öffentlichkeit kaum Beachtung und bleiben weitgehend unaufgearbeitet. Um den Prozeß gegenseitigen Verstehens zu fördern, sollte im Rahmen des Projektes Annäherung zwei Jugendlichengruppen Gelegenheit gegeben werden, sich ihre Erfahrungen, die Veränderungen im Alltag und im Selbstgefühl durch ein medienpädagogisches Projekt zu verdeutlichen. Methodisch war beabsichtigt, daß die Jugendlichen aus ihren persönlichen Erlebnissen vor, während und nach dem Umbruch in der DDR zentrale Themen und Situationen finden sollten, die dann mit Hilfe des Mediums Video zugespitzt, vielleicht auch satirisch verfremdet dargestellt werden würden. Obwohl die Jugendlichen bestimmenden Einfluß auf die Inhalte hatten, indem sie über die Themen entschieden und die Szenen auch selbst spielten, lag die technische Seite - Aufnahme und Schnitt - weitgehend in den Händen der für das Projekt engagierten Videofilmer. Da wir davon ausgingen, daß die Jugendlichen in beiden Teilen
Berlins unterschiedliche Erfahrungen machen und die Situation verschieden
erleben, sollten beide Gruppen ihre Filme getrennt erarbeiten. Weil es
aber andererseits ein wichtiges Ziel des Projektes war, die Jugendlichen
miteinander in Kontakt zu bringen, Austausch zu fördern und sich gegenseitig
besser zu verstehen, gab es zu Beginn, gegen Ende und zum Abschluß
gemeinsame Treffen beider Gruppen.
Kontaktladen V.I.P.
und Treffpunkt Triebwerk
Während einer Tagung im Jagdschloß Glienicke zu psycho-sozialen Aspekten der deutsch-deutschen Vereinigung entstand der Kontakt zu einer Sachbearbeiterin für politische Bildung und Jugendförderung Hohenschönhausen, die das Vorhaben unterstützte und die Verbindung zum Kontaktladen VI.P. herstellte. Dieser Jugendklub liegt mitten im Neubaugebiet von Hohenschönhausen und befindet sich in einem Einkaufszentrum, einem sogenannten Dienstleistungswürfel. Im Umfeld wohnen hauptsächlich Angestellte der ehemaligen DDR-Ministerien, also eher Angehörige der Mittelschicht, der Funktionselite der alten DDR. Seit kurzer Zeit hatte dieser Jugendklub eine neue Leiterin, Karin Volkert, eine Österreicherin, die sich selbst für Medienarbeit interessierte. Insgesamt nahmen zwölf Jugendliche aus dem Kontaktladen am Projekt teil, die meisten von ihnen Schülerinnen, die später einmal studieren wollten. Zum Treffpunkt Triebwerk gab es hingegen bereits einen langjährigen Kontakt. Medienarbeit war kein Fremdwort, schon mehrere Projekte hatten dort stattgefunden. Das Jugendzentrum liegt in einem relativ geschlossenen Kiez im Stadtteil Tegel. In den Sozialbauten aus den sechziger Jah-ren wohnen viele Arbeiter und kleine Angestellte. Die zehn Jugendlichen, die sich an Annäherung beteiligten, gingen meist schon arbeiten, einige studierten, andere waren noch Schüler. Das Projekt wurde hiervon den Pädagoginnen Sabine Hellmuth und Klaus Preß begleitet, die zuvor schon viele ähnliche Projekte durchgeführt hatten. Bei vielen Medienprojekten, die in den Jahren zuvor durchgeführt wurden, arbeiteten wir mit professionellen Videofilmerlnnen zusammen. Dadurch wurde eine gewisse Sicherheit im Hinblick auf die technische Qualität des Endproduktes erreicht. Hinzu kommt, daß Filmerinnen meist über ein größeres gestalterisches Wissen verfügen als Pädagoginnen. Dieses künstlerische Element machte die Projekte für Jugendliche zusätzlich interessant. Für Annäherung gewannen wir die Dokumentarfilmer Olaf Kreiß und Thomas Eichberg von der Filmhochschule in Potsdam für den Kontaktladen V.I.P. und den englischen Videoclipkünstler Adam Boome, der mit der Triebwerkgruppe arbeitete. Bei der Planung des Vorhabens spielte der Gedanke eine Rolle, daß hier vielleicht ein exemplarisches Projekt entstehen würde, das möglicherweise auch eine weitere Öffentlichkeit interessieren könnte. Wir griffen deshalb gern das Angebot der Jugendredaktion Wanted Alive von FAB (Fernsehen aus Berlin) auf, mit professioneller Highbandtechnik zu drehen, so daß wir hoffen konnten, daß die Ergebnisse des Projektes zumindest von der technischen Qualität her sendefähig sein würden. Als Ort des ersten Treffens, bei dem beide Gruppen mit dem Projekt und miteinander vertraut gemacht werden sollten, wählten wir die Medienwerkstatt PanMedia. Günstig war, daß diese Einrichtung beiden Gruppen unbekannt war, keine von ihnen einen Heimvorteil hatte und daß hier die Möglichkeit bestand, die Jugendlichen mit dem Medium Video bekannt zu machen. So treffen sich an dem Sonntagnachmittag vor Weihnachten 1990 sechs Jugendliche aus dem Kontaktladen V.I.P. und acht Jugendliche aus dem Treffpunkt Triebwerk, begleitet von Pädagogen aus den Einrichtungen, mit den Videofilmern und dem Koordinator des Projektes. Die Stimmung zu Beginn ist recht vorsichtig, vielleicht auch distanziert. Es scheint, als hielte sich jeder an seinem Becher Kaffee fest, unsicher, was da auf ihn zukommen würde. Beide Gruppen bleiben für sich, warten ab. Pädagogen, Filmer und Koordinatortreffen, auch etwas unsicher, letzte Vorbereitungen. Das Gefühl der Unsicherheit und der Fremdheit bleibt eine ganze Weile erhalten, überdauert die am Anfang stehende allgemeine Einführung in das Projekt und löst sich auch nur langsam, als Ost/West-gemischte Kleingruppen zum gegenseitigen Kennenlernen gebildet werden. Die gegenseitige Befragung und das anschließende Vorstellen der jeweils anderen vor der ganzen Gruppe lockert dann die Atmosphäre. Es zeigt sich, daß die Jugendlichen aus dem Kontaktladen sehr motiviert für das Projekt sind. Einige konnten sogar in der Nacht vorher kaum schlafen. Mit Video verbindet sich für sie Fernsehen. Ein Junge bringt seine Phantasien strahlend auf den Nenner: „Vielleicht werden wir jetzt berühmt!“ Ansonsten fällt es ihnen schwer, sich unter unserem Vorha-ben etwas Konkretes vorzustellen. Die Jugendlichen aus dem Triebwerk wissen zwar, was sie ungefähr erwartet, jedoch gelingt es auch ihnen kaum, ihre Erwartungen zu formulieren. Eine Rolle spielt die immer noch exotische Begegnung mit Jugendlichen aus dem anderen Teil Berlins: Wie sind die eigentlich? Anschließend geht es in Ost/West-gemischten Gruppen um Erlebnisse vom 9. November 1989, dem Tag der Mauer-Öffnung. Es werden eine Menge Geschichten und Eindrücke erzählt. Die überraschende Nachricht, der spontane Aufbruch aus Schule und Arbeitsplatz zur Mauer und in den anderen Teil der Stadt, der überraschende Besuch von Verwandten, der Bummel über den Kudamm. Was kauft man sich vom Begrüßungsgeld? („Katzenfutter!“) Einer erzählt, wie er im Westen seinen Ausweis verloren hat und nicht zurück in den Osten kommt. Der Versuch, die Grenze heimlich von West nach Ost zu überschreiten, scheitert an einem pflichttreuen NVA-Soldaten, der den vermeintlichen Grenzverletzer mit vorgehaltenem Gewehr zur Umkehr zwingt. Nach einer Nacht bei in der Discothek kennengelernten Bekannten gelingt am nächsten Tag die Rückkehr. Die Westler berichten von der Fülle in der Stadt, teils mit Freude und Staunen, teils mit Beklemmung und Ratlosigkeit. Je mehr Geschichten erzählt werden, desto deutlicher werden sich die Personen, die sie zum besten geben. Als gegen Ende des Nachmittags einige der Geschichten - zusammengefaßt
in kurzen Spielsequenzen - vorgeführt werden, herrscht eine offene,
heitere Stimmung. Adressen werden ausgetauscht, es gibt sogar einige private
Verabredungen. Wir haben den Tag mit einer Videoaufzeichnung dokumentiert,
von der wir hoffen, daß sie nach den Weihnachtsferien den Einstieg
in die eigentliche Projektphase erleichtern wird.
Nach den Ferien entsteht beim ersten Treffen der Gruppe, das noch ohne die Filmer stattfindet, ein Rahmenkonzept für die Gestaltung der drei Szenen - vor, während und nach der Öffnung der Mauer. Grundgedanke ist, anhand der Situation in der Schule, in einer Klasse zu zeigen, was sich ereignet und geändert hat. Schwierig ist allerdings der Neuanfang nach den Ferien, zum Teil haben die Jugendlichen andere Dinge im Sinn, zu zwei Terminen kommt kaum jemand. Hinzu kommt, daß die Filmer durch andere Arbeitszusammenhänge unter Druck sind und Schwierigkeiten haben, sich zeitlich über das von ihnen geplante Maß hinaus für das Projekt zu engagieren. Zusätzliche organisatorische Probleme entstehen, weil eine Schul-direktorin, die sich zunächst bereit erklärt hatte, Drehar-beiten in ihren Räumen zuzulassen und auch selbst eine Lehrerinnenrolle zu übernehmen, Bedenken bekommt und auch keine Genehmigung durch die Schulbehörde erhält. Unser Eindruck ist, daß die Schulverwaltung fürchtet, möglicherweise auf eine ihr nicht angenehme Weise mit Gegenwart und Vergangenheit ihres Unterrichts konfrontiert zu werden. Zumal von uns nicht erklärt werden kann, welchen konkreten inhaltlichen Verlauf die Filmhandlung nehmen wird. Als Ersatz findet sich ein Unterrichtsraum für Verkehrsunterricht in einer Feuerwehrwache, der je-doch nur an einem Wochenende genutzt werden darf. An diesem Wochenende entsteht der erste Teil des nun konzeptionell etwas veränderten Filmes. Es soll eine aus der Sicht der Jugendlichen typische Geschichtsstunde in der alten DDR gespielt werden. Mit Hingabe wird der Unterrichtsraum mit einer riesigen FDJ-Fahne, einer DDR-Fahne und einem Bildnis Erich Honeckers geschmückt. Die Schülerinnen und Schüler tragen ihre FDJ-Kleidung. Heute sind zehn Jugendliche gekommen. Eine Kollegin aus der Jugendarbeit in Hohenschönhausen spielt die Lehrerin, ein anderer Kollege übernimmt die Rolle des Schulrates, der die Unterrichtsstunde besuchen wird. Hauptperson der nächsten Szene ist Candy. Sie kommt zu spät, unglücklicherweise schon das dritte Mal in dieser Woche. Ein Tadel im Hausaufgabenheft wird fällig. Als Candy zu ihrem Platz geht, fällt dem Schulrat auf, daß sie eine Plastiktasche mit West-Werbung bei sich hat. „Aber junges Fräulein, diese Werbung, die sie da mit sich herumtragen, verstößt gegen die sozialistische Gesellschaft.“ Die Lehrerin zieht die Plastiktüte ein, wobei sie auch noch Candys BRAVO entdeckt. Auch diese wird eingezogen. Eine nächste Stufe der Bestrafung wird fällig: „Gut. Es reicht. Runter zum Direktor!“ Jedoch auch die anderen kommen nicht ohne Ermahnung davon; im folgenden geht es darum, daß vier Schüler ohne FDJ-Hemd zum Unterricht gekommen sind. „Nicole, wo ist Dein FDJ-Hemd?“ Die mehr oder weniger plausiblen Begründungen finden keine Anerkennung. Auch sie erhalten einen Tadel. In der nächsten Sequenz referiert Thomas über Die große sozialistische Oktoberrevolution. Candy lümmelt auf ihrem Tisch und denkt: „Immer diese blöden Vorträge. Daß manche Schüler das so mitmachen, kann ich gar nicht verstehen.“ Die Lehrerin reißt sie aus ihren Gedanken: „Candy. Ich möchte Dich darum bitten, daß Du Dich vernünftig hinsetzt, wie wir dies alle im Unterricht tun!“ Es folgt ein Vortrag von Dayna über den 13. August: „Ich möchte gerne einen Kurzvortrag über den Mauerbau halten.“ „Entschuldigen Sie“, unterbricht Genosse Schulrat Petrowski, „von welcher Mauer ist hier die Rede?“ Dayna beginnt nochmal: „Der antifaschistische Schutzwall...“ Nachdem sie geendet hat, fragt ein Mitschüler: „So ganz verstehe ich das nicht. Mein Opa wollte damals rübergehen und wurde dabei an der Grenze erschossen.“ Thomas meldet sich: „Tut uns zwar leid, daß Dein Opa gestorben ist, aber Dein Opa wollte damals in fremdes Gebiet eindringen, und das ist halt gesetzlich verboten gewesen.“ „Danke Thomas. Sehr gut.“ lobt die Lehrerin. Ein weiterer Schüler fragt, warum die DDR-Bürger nicht reisen dürfen. Der Schulrat verweist auf die Angebote von Jugendtourist, mit denen man sogar ins kapitalistische Ausland reisen könne, außerdem gäbe es doch in der DDR genug zu sehen, wie beispielsweise beim Pfingsttreffen der FDJ. Das Pfingsttreffen ist das nächste Thema. „Wer kann jemanden zuhause aufnehmen?“ Einige Schüler bringen Gründe vor, warum es bei ihnen zuhause nicht paßt. Die Lehrerin findet diese Gründe mehr oder weniger unakzeptabel und kündigt an, diese Frage auf dem nächsten Elternaktiv zu behandeln. Auch auf dem nächsten FDJ-Treffen soll das Thema Pfingsttreffen im Mittelpunkt stehen. Für den Film werden diese Sequenzen später mit Standfotos von Hohenschönhausen und FDJ-Liedern zusammengeschnitten. Einiges, wie ein Vortrag über das Leben Erich Honeckers, wird später nicht benutzt, um Längen zu vermeiden. Am folgenden Wochenende entstehen die Aufnahmen für den zweiten Teil des geplanten Films, der sich mit Erlebnissen vom 9. November 1989, dem Tag der Maueröffnung befassen wird. Ein Mädchen erzählt: „Erst sind wir nach Kreuzberg gefahren, weil das die günstigste Verbindung war. Dann haben wir uns die hundert Mark geholt und gleich dick eingekauft. Für die hundert Mark haben wir ewig angestanden. In den Geschäften haben wir auch angestanden, weil alle ihre Pfennige gezählt haben, damit sie sich was Richtiges kaufen.“ In der ersten Spielszene stehen die Jugendlichen vor einer Bank im Westen Schlange, um sich ihr Begrüßungsgeld abzuholen. Plötzlich biegen der Schulrat Petrowski und zwei Schüler, die sich im Unterricht des ersten Teils als besonders FDJ-treu erwiesen haben, um die Ecke. Offenbar sind auch sie auf dem Weg zur Bank. Gejohle unter den anderen: „Na, Ihr roten Socken.“ Candy ergreift das Wort: „Na toll find ich das. Früher total rot gewesen und für die SED gepredigt. Erst sagen: Kapitalismus ist Scheiße und jetzt hier 100 Mark abholen und dick einkaufen gehen. Sowas haben wir gerne.“ Pragmatische Antwort: „Hundert Mark kriegt man nicht alle Tage. Ich hol mir die und fahr zurück in den Intershop einkaufen.“ Es entsteht ein Streit darüber, ob man im Intershop einkaufen sollte. „Das ist doch genau die gleiche Ware.“ „Das ist ein politischer Unterschied. Ich geh bei uns im Osten einkaufen und nicht hier drüben.“ Ein weiterer Punkt der Auseinandersetzung ist die Beurteilung des Westens. Frage an die drei hinzugekommenen: „Willst Du jetzt weiter Deine SED-Meinung vertreten? Findest Du das noch gut?“ „Da können wir uns jetzt ein Bild machen, wies hier wirklich aussieht. Wir haben gelernt, daß es hier drunter und drüber geht. Uns siehste ja: Es geht drunter und drüber.“ In der nächsten Sequenz gehen die Jugendlichen in ein türkisches Restaurant, wo sie sich Kebab kaufen. „Da könnt ich drei von verputzen. Schmeckt einwandfrei!“ „Ej kiek ma, hier wohnen nur Türken.“ Sie finden es prima, jetzt im Westen durch die Stadt laufen zu können. „Warum hat es nicht schon früher so sein können!“ Für den Schnitt des zweiten Teils werden noch Aufnahmen von West-Berlin gemacht. Kudamm, Kranzlereck, Kreuzberg, Tauentzien, die Wagenburger am Potsdamer Platz. Die Bilder werden später zusammen mit Marius Müller-Westernhagens „Freiheit“ als Einleitung dieses Teils montiert. Der dritte Teil über die Situation der Jugendlichen in Hohenschönhausen Anfang 1990 soll im Jugendklub gedreht werden. Beim Drehtermin kommt es zu unerwarteten Problemen mit der Videotechnik. Die Recorder sind defekt. Mehrere Reparaturversuche und die Suche nach Ersatzgeräten bleiben erfolglos. Nicht zuletzt die nach wie vor unzureichenden Verkehrsverbindungen zwischen Ost- und West-Berlin verhindern, daß Ersatz beschafft werden kann. Da ein späterer Termin für die Aufnahmen nicht mehr möglich ist, muß auf eine kleine Lösung ausgewichen werden: Die geplanten Szenen werden mit Fotoapparat und Tonbandgerät aufgezeichnet und sollen später zusammengeschnitten werden. Für die Jugendlichen ist dies enttäuschend, da das Projekt nicht auf dem gleichen Niveau beendet werden kann, wie es begonnen hatte. Was ist gegenüber früher anders geworden? „Geändert hat sich gar nicht viel. Das einzige ist: Neues Auto kaufen, einkaufen. - Es ist kein Geld mehr da. Die Jugendklubs wurden schon früher schlecht vom Staat unterstützt. Ein paar Tische und Stühle haben wir gekriegt. Für den Rest mußten wir selbst sorgen. Die Tischtenniskellen sind immer noch die gleichen wie vor fünf Jahren, sind alle kaputt.“ Das Thema Tischtenniskellen wird in einer Spielszene behandelt. Thomas geht mit einer kaputten Kelle zu Petrowski, der jetzt als Hausmeister im Jugendklub arbeitet. „Kannste mir mal die Kelle heile machen?“ „Da ist nicht mehr viel zu machen, nur noch ein halber Belag. Frag doch mal die Leiterin, ob sie nicht eine neue für Dich hat.“ Doch die Klubleiterin hat keine neuen Kellen, sie findet außerdem: „Aber ihr könntet auch ein bißchen aufpassen.“ Der Hausmeister hat Verständnis für die Jugendlichen. „Sie helfen ja schon immer beim Renovieren, aber irgendwann gehts eben nicht mehr.“ Die Szene endet mit dem Hinweis der Klubleiterin Karin: „Wenn sich nicht bald etwas ändert, dann geht der Klub den Bach runter.“ Conny kommentiert Petrowskis Wandel. „Ich finde, daß Genosse Petrowski
ziemlich weit runtergekommen ist. Früher war er Schulrat, jetzt spielt
er hier in unserem Klub den Hausmeister. Ist irgendwie komisch. Aber der
ist eigentlich ganz in Ordnung. Wenn man Probleme hat, kann man mal zu
ihm hingehen und der hilft einem. Der nimmt das gelassen, daß er
jetzt Hausmeister ist. Das ist auch irgendwie besser jetzt zwischen ihm
und uns.“
Das erste Treffen der Gruppe aus dem Reinickendorfer Jugendzentrum Treffpunkt Triebwerk beginnt Anfang Januar mit einem Rückblick auf das gemeinsame Treffen zu Beginn des Projektes. Es folgt ein brainstorming: Welches Bild gab es vor der Maueröffnung von der DDR? Wo existieren Berührungspunkte? Was hat sich zum Guten, was zum Schlechten verändert? Die Mauer war von allen als normal empfunden worden. „Wir haben uns nicht weiter drum gekümmert.“ Neben eher seltenen Verwandtenbesuchen gab es die meisten Kontakte mit der DDR bei den lästigen Kontrollen im Berlin-Verkehr und beim verbilligten Einkauf in Intershop-Verkaufsstellen. Das DDR-Bild war geprägt durch die dort fehlenden Reisemöglichkeiten und mangelnde Meinungsfreiheit. Es wird aber auch gesehen, daß es weniger Arbeitslose und billigere Grundnahrungsmittel gab. Ob die Menschen in der DDR besser zusammengehalten haben als die im Westen, ist strittig, weil die Solidarität vielfach aus der Not geboren sei und es einen ganz massiven Repressionsapparat gegeben habe. Die Öffnung der Mauer wurde als freudiges Ereignis erlebt, als „unglaublicher Vorfall“. In Erinnerung sind noch die Begrüßung der Ossis durch die Wessis, die Sektflaschen, die Schlangen vor den Banken, der „Wessi-freie Kudamm“, das Gedränge, das Verkehrschaos und der „Trabbigestank“. Auch der massenhafte Bananen- und Kaffeekauf der Ossis ist noch im Gedächtnis. Die Jugendlichen selbst erinnern sich angenehm an die Erkundung des Ostteils, an die „Eroberung“ des ehemaligen Todesstreifens, an die Möglichkeit „drüben billig essen gehen“ zu können. Nach kurzer Zeit wurden aber auch Aggressionen und Mißstimmungen wahrgenommen. Die Zuschüsse in Richtung Osten, die sich verschärfende Wohnungsknappheit in Berlin, die Angst vor einer langfristigen Verschlechterung des Arbeitsmarktes für West-Berliner, eine Verknappung des Lehrstellenangebotes, der Wegfall der Berlin-Zulage, die Wehrpflicht für West-Berliner fallen negativ ins Gewicht. Auch wenn die einsetzende Normalisierung zwischen Ost und West begrüßt wird, überwiegt eine skeptische und ablehnende Haltung gegenüber den Folgen der Vereinigung. Aus dem brainstorming werden drei Themenkreise ausgewählt, die Gegenstand des Videos werden sollen: Politik (Wahlen, Meinungsfreiheit), Medien/Werbung und Reisen. Für die drei Bereiche werden schließlich - nachdem auch einige andere Konzepte überlegt wurden - verschiedene Formen der Umsetzung gefunden. Es werden Interviews mit den Jugendlichen gemacht, die später auch mit anderen Bildern montiert werden können. Ferner soll gezeigt werden, wie sich das Wohnzimmer einer Familie in der DDR verändert hat. Dies soll mit einem Aspekt des Themas Werbung verbunden werden, der im Laufe der Besprechung deutlich wird: In der alten DDR war es eigentlich nicht notwendig, Werbung zu machen. Wie soll ein Werbespot aussehen, wenn es in jeder Sparte nur ein oder zwei Produkte gibt? Das Video, das später Abwaschen geht besser mit Spülmittel heißen wird, beginnt mit Interviews zu den Themen Wahlen, Reisen und Werbung in der alten DDR: „Die hatten nicht so viele Möglichkeiten sich zu entscheiden.“ „In der DDR wars doch so, daß sie Angst hatten was zu sagen, zumindest höher gestellten Leuten gegenüber.“ „Die konnten nicht verreisen oder sind bei sich ins Grüne gefahren.“ „Die hatten kein Geld und wurden in anderen Ostblockstaaten benachteiligt.“ Zum Thema Reisen im Westen entsteht ein kurzer Videoclip, der ein Westehepaar zeigt, das sich mit einer umfangreichen Urlaubsausstattung behängt: Tropenhelm, Fotoapparat, Fernglas, Videoanlage zeigen den Konsumcharakter des West-Urlaubs. Es folgt ein fiktiver Werbespot aus der DDR: Die Frau kehrt vom Einkaufen in das eheliche Wohnzimmer zurück. Der Mann fragt: „Was hat Du denn gekauft?“ „Spülmittel. Denn mit Spülmittel kann man besser abwaschen.“ Wobei die Frau das DDR-typische Spülmittel in die Kamera hält. Es folgt ein ähnlicher Werbeclip für Zucker, wobei die Frau auf die gleiche Frage des Mannes antwortet: „Zucker. Denn Zucker macht das Leben süßer!“ Zu sehen ist ein Paket Zucker in der DDR-Verpackung. Beide Clips thematisieren, daß in einer Gesellschaft wie der alten DDR nur für das Produkt als solches geworben werden kann, nicht jedoch für eine bestimmte Marke. Im zweiten Teil befaßt sich die Gruppe aus dem Triebwerk mit dem 9. November 1989. Zunächst sind Bilder von der Mauer vor dem Brandenburger Tor, umgeben von Menschenmassen, zu sehen. Mittendrin ein Trabi. Ein alter Türke, der sich als Mauerspecht betätigt. Dazu als Musik „Ich glotz TV“ von Nina Hagen. Wie geht es den Jugendlichen mit der Maueröffnung? „Irgendwas hat gefehlt. Ich habe mich für die anderen gefreut, daß sie rüberkommen können, daß sie auch frei sind. Aber für uns gibts Nachteile: Die Berliner müssen jetzt zur Bundeswehr gehen.“ „Ich wußte nicht, was danach kommt. Komisch, erschreckend, daß man dann wieder so eine innere Mauer aufbaut.“ „Für die meisten wars ne Freude. Jetzt können sie rüber nach West-Berlin und nach Westdeutschland.“ Was hat sich verändert? In einem Sketch ist das schon erwähnte DDR-Wohnzimmer zu sehen. Möbelpacker kommen, räumen aus. Es kommen neue Möbel. Ledersofas, ein kurios-moderner Tisch, eine überdimensionale Stereoanlage. Das Bildnis Erich Honeckers weicht einem schwer bestimmbaren Kunstwerk. Im Off sind Gedanken der Jugendlichen zu den Veränderungen im Osten zu hören: „Ich glaub, daß für die Jugendlichen im Osten noch viel Unsicherheit da war. Irgendwie konnte man die erkennen. Die Westler konnten die Ostler erkennen. Von ihrer Kleidung her. Ich glaube, daß die auch ein wenig darunter zu leiden hatten.“ „Die haben jetzt Probleme, die müssen um ihre Plätze kämpfen.“ „Ich denke, daß es im Freundeskreis nicht so viele Auswirkungen hat. Daß sie jetzt halt aus dem Osten rauskönnen, daß sie auch im Westen etwas Kontakt kriegen können. Daß sie sehen, daß es gar nicht so schlecht ist im Westen, aber daß wir es auch nicht so gut im Westen haben, daß sich hier die Jugendlichen auch nicht das leisten können, was sie gerne wollen.“ „Die werden mit Werbung jetzt regelrecht bombardiert. Überall kaufen, was das Portemonnaie jetzt so erlaubt. Die Psychologie der Werbung läuft darauf hinaus, daß die Leute kaufen. Die Ostler sind noch wesentlich beeinflußbarer als wir heutzutage.“ Der Videofilm aus dem Triebwerk endet mit einem Sketch: Die Frau kehrt vom Einkauf ins neu eingerichtete Wohnzimmer zurück. „Was hast Du denn gekauft?“, fragt der Mann. Erwidert die Frau: „Spülmittel. Denn abwaschen geht leichter mit Spülmittel/Spülmittel/Spülmittel/Spül-mittel/...“ Zu jedem der elf „Spülmittel“ wird ein anderes Fabrikat in die Kamera gehalten. Da der Ton der Werbespots bei der Aufnahme nicht gut genug ist, werden
diese Teile im Tonstudio mit den Jugendlichen nachsynchronisiert, wobei
die Sprecherinnen andere Jugendliche sind, als diejenigen, die die Sketche
gespielt haben. So lernen die Jugendlichen quasi nebenbei die Möglichkeiten
des Synchronisierens kennen, auch die Irritation, die entsteht, wenn eine
bekannte Person plötzlich eine andere Stimme hat. Ein Jugendlicher
arbeitet bei dem recht aufwendigen Schnitt des Materials im Schnittstudio
mit.
Eine Woche vor dem geplanten Abschlußfest treffen sich die beiden Gruppen im Treffpunkt Triebwerk, um sich gegenseitig etwas aus ihren Filmen zu zeigen und um über ihre Erfahrungen mit dem Projekt zu sprechen. Wegen der technischen Schwierigkeiten kann jedoch nur das Material aus dem Treffpunkt Triebwerk angesehen werden. In dem Gespräch, das sich an die Sichtung des Materials anschließt, wird viel darüber gesprochen, wie es den Jugendlichen aus Hohenschönhausen zur Zeit geht. Ein zentrales Thema ist Respekt, das Gefühl, von den Westlern nicht respektiert zu werden, in der sich neu bildenden deutschen Gesellschaft benachteiligt und nicht als gleichrangig anerkannt zu sein. Von dem Vorwurf, auf die Ostler herabzusehen, werden die Jugendlichen aus dem Triebwerk aus-drücklich ausgenommen: „Bei dem Projekt hier ist das nicht so.“ Ein gewisses Einverständnis stellte sich zwischen beiden Gruppen her, als es um „Ausländer“ ging. Mit denen wolle man nichts zu tun haben. Ein Jugendlicher aus Hohenschönhausen fand, daß die alte DDR-Gesellschaft dem Westen hier voraus war: „Wir hatten die Fidschis wenigstens unter Kontrolle, was man bei Euch in Bezug auf Türken ja nicht gerade behaupten kann!“ Kritische Fragen der Pädagogen, worauf sich die negative Einstellung zu „Ausländern“ gründe, fördern die bekannten Vorurteile zutage („Nehmen Arbeitsplätze weg und sind unsauber“). Es gelingt nicht, die betreffenden Jugendlichen durch Gegenargumente von ihren Meinungen abzubringen. Ein anderes Thema, das die Jugendlichen aus dem Osten bewegt, ist die Veränderung des Schulwesens. Die erste Zeugnisvergabe nach dem Beitritt steht kurz bevor. Weil viele Lehrer nun strengere Maßstäbe an die Leistungen der Schüler anlegen, verschlechtern sich bei vielen Schülern die Schulnoten erheblich. Wie sollen die Schüler den Eltern beibringen, daß sie nun schlechtere Noten haben, obwohl man nicht weniger geleistet hat als vorher? Wieder einmal wird eine Fülle von Themen und Problemen deutlich, die eigentlich in dem Projekt aufgegriffen werden müßten. Mitte Februar findet im Kontaktladen V.I.P. die Abschlußveranstaltung des Projektes Annäherung statt. Die fertigen Filme werden nun öffentlich vorgeführt. Alle beteiligten Jugendlichen sind gekommen, ebenso Freunde und Stammbesucher aus dem Kontaktladen. Auch Kolleginnen aus der Jugendarbeit in Reinickendorf und Hohenschönhausen haben sich eingefunden. Die beiden Videos, die nun zu einem Film hintereinander-geschnitten
sind, finden bei den Zuschauern großes Interesse. Besondere Resonanz
und Heiterkeit finden die Schulszene und die Werbesketche. Als die Vorführung
zu Ende ist, gibt es viel Beifall. Anschließend war eigentlich ein
gemeinsames Gespräch über das Gesehene beabsichtigt. Die meisten
Zuschauerinnen sind jedoch mehr an der sich anschließenden Disco
interessiert. Ein Jugendlicher aus dem Kontaktladen hat an diesem Tag Geburtstag,
im Anschluß an die Videovorführung ist eine entsprechende Feier
geplant, die sich im Interesse der Jugendlichen rasch in den Vordergrund
schob. So gibt es mehrere kleine Gesprächsrunden der anwesenden Erwachsenen,
die sich mit den Videos befassen. Kontrovers diskutiert wird vor allem
die Darstellung der alten DDR-Verhältnisse in der Schulszene. Die
zugespitzte und teilweise satirische Darstellung wird von manchen Erwachsenen
als überzogen kritisiert. Die DDR käme zu schlecht weg. Es habe
ja auch Gutes gegeben. Auch sei der Schlußteil des Kontaktladen-Videos,
in dem die schwierige Situation der Jugendlichen und der Jugendarbeit an
den kaputten Tischtenniskellen fest gemacht werde, zu wenig inhaltlich.
Bei dem Triebwerk-Video werde deutlich, wie wenig die Jugendlichen im Westen
zu diesem Zeitpunkt eine Veränderung ihrer Situation wahrnähmen.
Die Themen dieses Videos kreisten weitgehend nur um die Veränderung
im Osten.
Im Anschluß an das Projekt wurde das Video noch mehrfach auf Veranstaltungen mit Jugendlichen gezeigt. Ausschnitte wurden im Jugendmagazin Wanted Alive gezeigt. Zwischen den Jugendlichen aus dem Kontaktladen und dem Treffpunkt haben sich recht enge Beziehungen entwickelt. So haben mehrfach Jugendliche aus Reinickendorf die Disco im Hohenschönhausener Klub besucht und umgekehrt. Auch an der schon erwähnten Geburtstagsfeier nahmen die meisten Jugendlichen aus der Triebwerk-Gruppe teil. Einige Jungen aus dem Triebwerk und Mäd-chen aus dem Kontaktladen haben sich angefreundet. In beiden Jugendzentren und in beiden Jugendämtern gab es am Ende
des Projektes Überlegungen, weitere Projekte erfahrungsorientierter
aktiver Medienarbeit durchzuführen.
Annäherung - erfahrungsorientierte Medienpädagogik als emanzipatorische politische Bildung Das Projekt Annäherung macht den Wert deutlich, den aktive Medienarbeit mit Jugendlichen für die Verarbeitung von Erfahrungen mit der deutsch-deutschen Vereinigung hat. Im Unterschied zum getrennten Alltag, in dem häufig durch die Medien verbreitete allgemeine Zuschreibungen und Einschätzungen das Bild der „Ossis“ oder der „Wessis“ prägen, auch Vorurteile erzeugen, kam es hier zu einer direkten, teilweise sehr intensiven gegenseitigen Vermittlung von Erlebnissen und Erfahrungen. Über das eigentliche Projekt hinaus gab es auch persönliche Kontakte zwischen beiden Gruppen, die auch noch fortbestanden, als das Projekt schon beendet war. Erfahrungsorientierte Medienpädagogik ist eine im Westen seit den siebziger Jahren etablierte Methode der Jugendarbeit. Durch die Gestaltung eines Videos, einer Ton-Dia-Show oder eines Hörspiels befassen sich Jugendliche intensiv mit ihrer sozialen Realität. Ziel ist es, ihre subjektive Sicht von Problemen darzustellen. Der Produktionsprozeß dient nicht in erster Linie der Umsetzung eines präzisen inhaltlichen Konzepts, sondern soll bei der inhaltlichen Erkundung von bestimmten Problemlagen helfen. Indem Situationen gespielt werden, wird oft überhaupt erst deutlich, was sie alles beinhalten. Insofern ist es wichtig, nicht nur vorgefertigten Drehbüchern zu folgen, sondern während der gesamten Arbeit an dem Film eine Offenheit für Assoziationen und Stimmungen zu bewahren. Medienarbeit als Prozeß der Selbstfindung und der Identitätsbildung, nicht als Vermittlung vordefinierter Inhalte und Interpretationen. Das fertige Produkt, beispielsweise der Videofilm, soll qualitativ so gut sein, daß ihn sich andere, Nichtbeteiligte, auch mit Interesse ansehen können. Dies setzt voraus, daß in der Arbeit am Film die Sichtweisen der Jugendlichen verdichtet, „auf den Punkt gebracht“ werden, und daß die technische Qualität im großen und ganzen den üblichen Sehgewohnheiten entspricht. Eine Tradition aktiver Medienarbeit und erfahrungsorientierter Medienpädagogik, die sich im Westen gerade auch im Kontext sozialer Bewegungen entwickelt haben, fehlt in der ehemaligen DDR fast völlig. Die Formulierung subjektiver Realitätssicht hatte keinen Platz in einer Gesellschaft, in der persönliche Sichtweisen nicht als subjektive Erfahrung, sondern als Übernahme vorformulierter Standpunkte gedacht waren. Wo Politik weitgehend aus der Wiedergabe und der Präsentation vorformulierter Meinungen bestand, spielte eine Meinungsbildung aufgrund der Reflexion eigener Erfahrungen keine Rolle. Politik bekam so den Charakter von „Scheinpolitik“ (Harald Petzold), einer vom sonstigen Leben relativ abgehobenen Sphäre, die für die Regelung der Lebensverhältnisse kaum eine Bedeutung hatte und auch keine Integration und Abstimmung unterschiedlicher Interessen leistete. Das demokratische Selbstverständnis dieser Sphäre gründete weitgehend auf dem Bestreben, möglichst viele Menschen in die entsprechenden Aktivitäten einzubeziehen. Die Folge war eine massive Entpolitisierung bei gleichzeitiger, die ganze Gesellschaft durchdringender politischer Aktivität. Eine weitere Konsequenz ist, daß viele Menschen, die diese Form von Politik ablehnen, sich selbst als unpolitisch definieren. Ferner fördert die scheinpolitische Aktivität ein Politikverständnis, bei dem es vor allem um „Meinungen“ geht, die ein von subjektiven Erfahrungen weitge-hend unabhängiges Eigenleben führen und die die Verdrängung von Problemen im Alltag geradezu fördern. Auch in der westlichen Bundesrepublik hat Politik oftmals den Charakter von öffentlich-legitimatorischem Ersatzhandeln. Gesellschaftliche Probleme werden von Politikern unzureichend gelöst. Das bloße Gegenüberstellen von Meinungen ersetzt auch im Westen häufig die inhaltliche Durchdringung von gesellschaftlichen Problemen. Vorurteile zwischen unterschiedlichen Gruppen und Ethnien lassen sich bei Umfragen im Westen ebenso erheben wie im Osten. Andererseits entstand in Westdeutschland eine Öffentlichkeit, die es ermöglichte, daß gesellschaftliche Probleme bewußt, Konflikte ausgetragen und unter schiedliche Lebensweisen in die Gesellschaft integriert wurden, wobei auch die Gesellschaft selbst einem Wandel unterworfen ist. Dieses Element der Öffentlichkeit fehlt dem nun nach westlichem Vorbild arbeitenden politischen System der ehemaligen DDR. Für die weitere politische Entwicklung im Osten, aber auch im übrigen Deutschland, ist es zentral, ob und wie sich diese Öffentlichkeit herausbildet. Cora Stephan weist darauf hin, daß es dem Westen hier „an dem Verantwortungsgefühl fehlt, das die Engländer oder Amerikaner nach dem Krieg bekundeten“. Wie kann man Jugendliche darin fördern die eigene Situation wahrzunehmen, eigene Subjektivität zuzulassen und sich für eigene Interessen einzusetzen? Wie können Jugendliche darin gefördert werden, Verständnis für und In-teresse an anderen Kulturen und Lebensweisen zu entwickeln? Wie können Jugendliche an einer sich entwickelnden Öffentlichkeit partizipieren? Im Hinblick auf diese Fragen nimmt in den östlichen Bundesländern eine jugendpolitische Katastrophe ihren Lauf. Nachdem sich die sozialen Bedingungen und Perspektiven für die Jugendlichen mit dem Ende der alten DDR weitge-hend aufgelöst haben, fehlen andererseits die Institutionen, die Jugendlichen bei der Verarbeitung ihrer widersprüchlichen Erfahrungen helfen könnten. Viele Eltern sind durch eigene Orientierungsprobleme, Arbeitslosigkeit oder auch moralischen Glaubwürdigkeitsverlust kaum in der Lage, den Jugendlichen einen Rückhalt zu bieten. Alte Schulstrukturen und Beziehungen unter den Schülern wandeln sich durch die Angleichung des Schulsystems. Das gesellschaftlich dominante Wertesystem fordert statt Anpassung die Entwicklung von Individualität. Viele Jugendliche, die im Osten keine Perspektive sehen, ziehen in den Westen. Zugleich werden vielerorts Jugendklubs, die Jugendlichen einen sozialen Rückhalt bieten, geschlossen bzw. müssen ihr Programm einschränken. Ebenso eingestellt sind Freizeitangebote in Arbeitsgruppen und Zirkeln, die häufig durch die Schule organisiert worden waren. Wurde das Leben, auch die Freizeit der Jugendlichen in der DDR relativ stark strukturiert, so entsteht mit dem Wegfall dieser Strukturierung die widersprüchliche Situation, einerseits den Wegfall der Aufforde-rung zum Mitmachen als Befreiung zu erleben, andererseits unter der plötzlichen Leere und Strukturlosigkeit zu leiden. Neben der weitgehenden Reduzierung von sozialen und kulturellen Angeboten für Jugendliche besteht ein massiver Mangel an Methoden für eine Jugendarbeit, die Jugendlichen ermöglicht, ihre Erfahrungen zu reflektieren und zur Entwicklung von angemessenen Lebenstrategien beizutragen. In den Jugendklubs bezog sich die Tätigkeit der Mitarbeiterinnen auf die Organisation von Veranstaltungen, Zirkeln und Klubaktivs, oft auch darauf, gegenüber der FDJ und dem Magistrat Freiräume zu sichern. In den künstlerisch-kulturellen Zirkeln hingegen ging es um eine Vermittlung kreativer Fertigkeiten, nicht darum, mit diesem Können der eigenen Realität und den eigenen Interessen Ausdruck zu geben. Für die Entwicklung einer Jugendarbeit, die eine Teilhabe von Jugendlichen an der Öffentlichkeit und Politik ermöglicht und fördert, ist es unbedingt notwendig, neben einem Erhalt von Jugendeinrichtungen für die Entwicklung und Verbreitung einer erfahrungs- und handlungsorientierten Jugendarbeit zu sorgen. Hier ist es auch wichtig, Begegnungen zwischen Jugendlichen aus unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen zu organisieren. Mit dem Projekt Annäherung haben wir einen Ansatz in dieser Richtung realisiert. Es ist allerhöchste Zeit, daß sich die Kommunen den Wert
einer auf Subjektivität und demokratische Öffentlichkeit zielenden
Jugendarbeit verdeutlichen und sie materiell in die Lage versetzen, eine
solche Arbeit zu leisten. Die Alternative zu einer auf Partizipation zielenden
Jugendarbeit ist vielerorts - nicht nur in der ehemaligen DDR - zu besichtigen:
Jugendliche, die sich über Gewalt und aggressive Ablehnung alles Fremden
und die Anlehnung an Sicherheit versprechende, autoritäre Gruppenstrukturen
Gehör verschaffen.
Kontaktladen V.I.P.: Nicole Bäßler, Cynthia Busert, Thorsten Englert, Dayna Fechtner, Marco Oranzow, Candy Mollau, Thomas Schütze, Steffen Stange, Dirk Theuerkauf, Katrin Walz, Thomas Werner, Conny Wirrmann Treffpunkt Triebwerk: Anna Chandros, Chrisrian Klapper, Thomas Looß, Dirk Mausolf, Jeanette Mokry, Geraldine Neumann, Christian Pause, Rouven Schrader, Alexander Völz, Astrid Wohlenberg Die Videofilmer: Adam Boome, Thomas Eichberg, Olaf Kreiß PädagogInnen: Sabine Hellmuth, Klaus Preß, Karin Volkert, Wolfgang Witte Mario Huwe, Jürgen Meiling und Monika Strietz danken wir für
freundliche Unterstützung
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