Wolfgang Witte
Rockmusik in der Berliner Jugendarbeit
Musik als Leitmedium der Jugendkultur Rock- und Popkultur hat für das Selbstgefühl und die Selbstdefinition von Jugendlichen zentrale Bedeutung. Rockmusik, Popmusik allgemein, aber auch andere Elemente der Popkultur wie Mode, Tänze, Frisuren, Filme, bieten ein zunehmend ausdifferenziertes Arsenal für die Entwicklung von Jugendstilen und für die subjektive Verortung von Jugendlichen im gesellschaftlichen Gefüge. Stehen in den fünfziger Jahren als bedeutungsrelevante Stile „Halbstarke" und „Exis" als Orientierungsmuster außerhalb der traditionellen Organisationsformen für Jugendliche zur Verfügung, so ist in den Achtzigern das Feld der jugendrelevanten Stile kaum noch zu überschauen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind hier zu nennen: Rocker, Mods, Teds, Skins, Redskins, Hippies, Heavys, Punks, Rapper, Rockabillies, Psychobillies. In den Neunzigern wird das Mosaik der Jugendstile im Kontext von HipHop und Techno noch feiner, kleinteiliger und - für Ältere - unverständlicher. Die Entscheidung für ein bestimmtes Outfit und einen bestimmten Musikstil beinhaltet Loyalitäten und Abgrenzungen zu anderen Stilen, Szenen und Orientierungen. Fanden kulturelle Kontroversen in früheren Jahrzehnten - bzw. in der früheren DDR - zwischen der dominierenden Normalkultur und einer relativ homogenen Jugendkultur statt, so existieren solche Auseinandersetzungen zunehmend auch zwischen unterschiedlichen Stilen innerhalb der Rock- und Popkultur. Die wachsende Bedeutung von Jugendszenen, deren Bedeutungsmuster durch die Rock- und Popkultur geprägt sind, ergibt sich aus den Veränderungen in der Sozialisation Jugendlicher. Immer weniger verläuft der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter in eindeutig strukturierten Bahnen. Familie und Schule machen weniger strukturierende Vorgaben, berufliche Perspektiven sind unsicher und oft unerfreulich, Wohn- und Lebenszusammenhänge sind weitgehend durch Anonymität gekennzeichnet. Andererseits bietet die Freizeit- und Medienindustrie vielfältige Waren mit hohem Bedeutungsgehalt, was Jugendlichen erlaubt, mit dem Konsum von Kleidung, Musik, Sportartikeln, Zeitschriften, Filmen, mit dem Besuch bestimmter Veranstaltungen, Konzerte oder Discos, Rollen und Bilder vom eigenen Selbst zu entwerfen. So kann soziale Zugehörigkeit oder Distanz symbolisiert werden. Dem entspricht, daß viele Jugendliche sich in „Szenen" organisieren, die zwar über deutliche Grenzen verfügen - diejenigen, die ihr angehören, wissen genau, wer dazugehört und wer nicht -, aber in der inneren Struktur flexibel sind und formal nur eine geringe Verbindlichkeit aufweisen. Eine Szene trifft sich an bestimmten Orten oder zu Anlässen, der einzelne kann jedoch frei entscheiden, ob er teilnimmt oder nicht; er muß sich nicht rechtfertigen. Angebote der Freizeit- und Medienindustrie werden gezielt wahrgenommen, soweit sie den Wünschen des einzelnen oder der Szene entsprechen. Dies korrespondiert - nebenbei gesagt - mit der Distanz, die viele Jugendliche den auf enge Bindungen und Langfristigkeit angelegten und von Pädagogen dominierten Angeboten der traditionellen Jugendarbeit gegenüber haben. Musik ist im Zusammenhang mit Jugendszenen ein besonders ausdifferenziertes
Medium mit für jeden Jugendlichen spontan verständlichen sozialen
Bedeutungen. Rock, Pop, HipHop und Techno benennen, kommentieren und interpretieren
die Wurzeln der eigenen Kultur ständig neu. Zugleich haben Jugendszenen
sie für eine unmittelbare praktische Bedeutung, indem sie der Markierung
von Räumen und dem Kampf um Territorien dienen. Jeder kennt das Bild
von Jugendlichen, die mit laut aufgedrehtem Cassettenrecorder eine Parkbank
belagern, so daß jeder, der nicht dazugehört, um die Gruppe
lieber einen großen Bogen macht.
Die Darstellung der Bedeutung von Rock- und Popmusik für Jugendliche macht deutlich, daß die Kriterien dessen, was Jugendliche mögen oder was sie ablehnen, über das rein Musikalische weit hinausreichen. Die Beschäftigung mit Rockmusik ist für Jugendliche alles andere als ein belangloses, vom übrigen Leben abgetrenntes Hobby. Vielmehr geht es auch um eine komplexe symbolische Auseinandersetzung mit dem Ziel, den eigenen Ort in der Gesellschaft, die eigene Identität zu bestimmen. Sich in dieser Welt von Bedeutungen auszukennen und ausdrücken zu können, ist heute für Jugendliche kaum weniger wichtig als lesen und schreiben zu können. Wer vermag, sich mit den Medien der populären Kultur zu verständigen, kann in größerem Umfang an gesellschaftlicher Kommunikation partizipieren als andere. Die herausragende Bedeutung von Musik für die Identitätsbildung von Jugendlichen zeigen auch empirische Untersuchungen über das Medienverhalten Jugendlicher. Ein Drittel bis ein Viertel aller Jugendlichen probieren sich danach im Musizieren aus, die allermeisten davon im Rock- und Popbereich (vgl. u.a. Shell-Studie 1985, ARD/ZDF Medienkommission 1986). Den Ergebnissen theoretischer und statistisch-empirischer Untersuchungen entsprechen die Erfahrungen aus der Praxis der Jugendarbeit, die auf ein breites Interesse von Jugendlichen an aktiver Teilhabe an der Rockkultur hinweisen. Viele Jugendliche sind leicht zu motivieren, sich ans Schlagzeug zu setzen oder das Gitarrespielen zu probieren. Auch wenn nicht jedes Interesse langfristig hält, so ist deutlich, daß hier ein beträchtliches kreatives Potential besteht, dem es oft nur an Ermutigung und materieller Unterstützung mangelt. Die Darstellung des Gebrauchswertes und der Funktionen von zeitgenössischer populärer Musik für Jugendliche macht deutlich, daß dieser Gebrauch auch problematische Seiten hat. Nicht selten klammern sich Jugendliche an eng begrenzte Identitätsentwürfe und sind kaum fähig, sich für anderes - seien es alternative Stilorientierungen oder gar traditionelle Kulturformen - und für neue Erfahrungen zu öffnen. Ekstase und rauschhafte Erlebnisse beinhalten die Gefahr von Abhängigkeiten und Suchtgefahren. Nicht selten findet Rockmusik ja in einem unmittelbaren Kontext von Alkohol- und Drogenkonsum statt. Angebote und Methoden in der Berliner Jugendarbeit Umfragen in Berliner Jugendfreizeiteinrichtungen, die 1987, 1992 und 1994 von der Senatsverwaltung für Jugend und Familie zur kulturellen Jugendarbeit im Rockbereich durchgeführt wurden, zeigen die zunehmende Bedeutung, die Rock- und Popmusik für die Praxis der Jugendarbeit hat. Deutlich wurde, daß • in den Berliner Jugendfreizeiteinrichtungen 220
- 250 junge Bands, also etwa 1.000 Jugendliche, Übungsräume finden,
Insgesamt läßt sich davon ausgehen, daß pro Jahr etwa 2.500 - 3.000 Jugendliche und junge Erwachsene aktiv die Rockmusikangebote der Berliner Jugendarbeit nutzen. Das Interesse von Jugendlichen am aktiven Musizieren im Rock- und Popbereich
hat zu einer Reihe unterschiedlicher Methoden geführt, die in der
Praxis der Jugendarbeit oft nebeneinander existieren:
Diese Form der offenen Arbeit mündet meist in eine sozialpädagogische Gruppenarbeit, wobei von dem sozialen Charakter der Rockmusik profitiert wird. Das gemeinsame Musizieren, wobei unterschiedliche Instrumente aufeinander angewiesen sind und sich aufeinander einstellen müssen, fördert die sozialen Beziehungen unter den Beteiligten. Das gemeinsame Bewältigen von Schwierigkeiten und Konflikten bietet den Jugendlichen Erfolgserlebnisse, besonders wenn die Gruppe auch mal auftreten kann. Darüber hinaus erlaubt das Musizieren den Ausdruck von Gefühlen, wie dies im Alltag vieler Jugendlichen sonst nicht gelingt. Als Nebenprodukt solcher Gruppenarbeit wird musikalisches Basiswissen und Nachdenken über ästhetische Fragen vermittelt. In angeleiteten Gruppen geht es eher darum, musikinteressierte Jugendliche mit Fachwissen zu unterstützen. Solche Jugendliche würden sich vielleicht auch ohne pädagogische Unterstützung für das aktive Musikmachen interessieren, daher geht es hier hauptsächlich darum, organisatorische Hürden aus dem Weg zu räumen (Übungsraum, Verstärker) und musikalische Hilfestellung und Anregung zu geben, ohne die solche Gruppen vielleicht nicht beisammen blieben. In Übungsräumen, die mehr oder weniger gut ausgebaut sind und die teilweise mit Equipment sind, können Bands proben. Da in vielen Freizeiteinrichtungen mehrere Gruppen sind, entsteht hier meist eine kleine Szene, die den Bands Austausch untereinander bietet. Für andere Jugendliche in der Einrichtung können solche Gruppen Anregung sein, selbst musikalisch aktiv zu werden. In Workshops werden jungen MusikerInnen in einer zeitlich befristeten Aktivität, z.B. während eines Wochenendes, durch erfahrene Musikerinnen zusätzliche Kenntnisse, Musikstile und Tricks vermittelt. Darüber hinaus werden Jugendliche auch mit Musikrichtungen bekannt gemacht, die sie sonst nicht kennenlernen würden. Neben der Vermittlung von Kenntnissen werden hier vor allem Szenen junger Musiker gefördert, wobei teilweise auch Anfänger von Fortgeschrittenen lernen. Tonstudios im Rahmen der Jugendarbeit bieten jungen Bands Gelegenheit, Aufnahmen von der eigenen Musik zu machen, am eigenen Sound zu arbeiten und zeitgemäße Tontechnik kennenzulernen. Für die Bands sind die Aufenthalte im Tonstudio meist Höhepunkte des Bandlebens und tragen oft wesentlich zur Entwicklung der Gruppen bei. Einige Tonstudios bieten auch Kurse in Ton- und Miditechnik an. Teilweise gibt es auch offene Angebote für Besucher der Einrichtungen. Konzerte in Jugendfreizeiteinrichtungen präsentieren in der Regel junge Bands, um diesen ein Forum zu bieten. Oft spielen mehrere Gruppen, um den Austausch untereinander zu fördern und um mehr Publikum anzusprechen. Besucher solcher Konzerte sind meist Freunde, Klassenkameraden, andere Musikerinnen und Stammbesucherinnen der Einrichtungen. Wettbewerbe bieten jungen Bands über mehrere Tage hinweg Gelegenheit, sich öffentlich zu präsentieren. In der Regel führt der Wettbewerbscharakter dieser Veranstaltungen dazu, daß sehr viele Besucher kommen, die „ihre" Band unterstützen wollen bzw. andere Musiker, die sich für die Konkurrenz interessieren, so daß hier ein höchst lebendiges soziales Feld entsteht. Festivals und Musiktage bieten einer Reihe junger Bands Auftrittsmöglichkeiten. Durch die Vielzahl der Bands ist es leichter, eine größere Öffentlichkeit zu interessieren. In Projekten, z.B. beim Erarbeiten eines Musicals, finden Verknüpfungen mit anderen künstlerischen Bereichen wie Tanz, Theater und bildnerischem Gestalten statt. In Videoclipprojekten und in der computergesteuerten Musik werden Verbindungen zu anderen Medienbereichen geknüpft. Indem größere Gruppen verschieden interessierter Jugendlicher zusammenarbeiten, bilden solche Projekte auch hervorragende soziale Lernfelder und Möglichkeiten zur Integration verschiedener Jugendkulturen. Im Rahmen internationaler Begegnungen gibt es einen kontinuierlichen Jugendaustausch, wobei zunehmend auch junge Rockbands in den Austausch einbezogen werden. Mit der Ent-wicklung entsprechender EG-Programme und des Austausches mit den östlichen Nachbarstaaten nimmt der Umfang solcher „Tourneen" an Bedeutung zu. An einigen Stellen der Rockmusikarbeit spielt auch der Erwerb arbeitsmarktrelevanter Qualifikationen für die Jugendlichen eine Rolle. Außer im engeren musikalischen Bereich gilt dies für diejenigen, die ehrenamtlich in Tonstudios und beim Einsatz von Beschallungs- und Lichttechnik tätig sind. Nicht selten bietet die Jugendarbeit hier einen Einstieg in eine spätere Berufsperspektive. Eine besonders wichtige Aufgabe ist die Förderung von musikinteressierten Mädchen, die zwar auch ein großes Interesse am Musizieren haben, aber selten Gelegenheit finden, sich hier auszuprobieren. Angesichts der Übermacht von Jungen und der Dominanz männlicher Werte in der Rockmusik überlassen sie diesen das Feld. Zunehmend werden jedoch ermutigende Erfahrungen mit von Musikerinnen angeleiteten Mädchenbands gemacht. Ziel aller genannten methodischen Schwerpunkte ist es, Jugendliche bei
der Entwicklung ihrer individuellen und sozialen Fähigkeiten zu fördern.
Dabei fließen sozialpädagogische, präventive, bildungsbezogene
und kulturelle Zielsetzungen ineinander. Entsprechend der Bedeutung, die
Rock- und Popmusik für Jugendliche hat, geht es im Jugendbereich um
die Förderung sozialer Szenen und Räume, in denen sich diese
Kultur entfalten kann.
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