Wolfgang Witte

Wörterbuch der Theaterpädagogik: Stichwort "Zielgruppe"

Wer in modernen komplexen Gesellschaften Wirkungen erzielen möchte, muss klären, wen er mit einer Aktivität erreicht möchte und welche Wirkungen hinsichtlich des Verhaltens von Einzelpersonen und sozialen Gruppen erzielt werden sollen: Welche Z. sollen auf welchem Wege mit welcher Wirkung erreicht werden? In formierten überschaubaren gesellschaftlichen Zusammenhängen, in denen sich die Adressaten sozialer Handlungen nahezu von selbst verstehen, besteht dagegen weniger Erfordernis, mögliche Z explizit zu beschreiben. Die Akteure eines Krippenspiels in dörflicher Umgebung sind sich beispielsweise in der Regel eher ihres Publikums gewiss als eine Theatergruppe im großstädtischen Umfeld.

Die Notwendigkeit der systematischen Bestimmung von Z ergibt sich aus der Entwicklung der industriellen und pluralistischen Massengesellschaft. Da mit der Massenproduktion – erst recht in einer globalisierten Industrie – kein unmittelbarer Kontakt zwischen Produzent und Konsument besteht, müssen die potentiellen Käufer durch Werbung über ein Produkt informiert und für den Kauf gewonnen werden. Mit der wachsenden Individualisierung und Differenzierung moderner Industriegesellschaften können Konsumenten nicht mehr als homogene Masse angesprochen werden. Entscheidend für den Erfolg wird, die zahlreichen unterschiedlichen Konsumentengruppen auf geeignete Weise anzusprechen. Effektive Werbung ist darauf angewiesen, mögliche Käufer durch Marketing kennenzulernen, zielgenau zu erfassen und zu erreichen.(vgl. Becker 2002, Berekoven 1993) 

Mit dem Begriff der Z ist derjenige der Wirkung verbunden. Jede Defintion von Z beinhaltet eine Wirkungsabsicht. Definierte Gruppen der Öffentlichkeit sollen zu bestimmten gewünschten Handlungen, z.B. dem Kauf bestimmter Waren veranlasst werden. Wirkungen können auch darin liegen, dass unerwünschte Handlungen unterlassen werden. Die Ziel-Wirkung-Orientierung beinhaltet, dass nur diejenigen angesprochen werden, von denen eine Wirkung, sprich: ein entsprechendes gewünschtes Handeln erwartet werden kann. 

Z existieren nicht nur objektiv, sondern werden interessengeleitet definiert und durch Werbung angesprochen.(vgl. Rogge 2000) Waren werden gezielt im Hinblick auf mögliche Z, ihre Wünsche, Qualitätsansprüche, ihre finanziellen Möglichkeiten, ihre ästhetischen Präferenzen und ihre psycho-sozialen Defizite im Rahmen des Marketing gestaltet.( vgl. Dammler 2000, Haug 1971) Andererseits verhalten sich Z. selten homogen und vollkommen erwartungsgemäß. Kaufen und erst recht der Gebrauch von Waren ist eine Form aktiven Handelns, wodurch die Konsumenten den Waren einen eigenen Sinn verleihen, der dann auch auf die Z-definitionen zurückwirkt. Als anschauliches Beispiel kann hier die Teenagermode gelten, wo ein ständiger Kreislauf von Warenproduktion, kultureller Aneignung durch junge Menschen, veränderter Produktion usf. stattfindet.( vgl. Willis 1991) Der Zusammenhang von Z-defintion, gezielter Ansprache und Konsum ist als komplexer Kommunikations-, Handlungs- und Gestaltungsprozess zu verstehen, dem Vorstellungen eines gradlinigen, einseitig gerichten Manipulationsprozesses nicht gerecht werden. Der abstrakten Aufteilung in "wahre" und "falsche" - vor allem: durch Werbung und Warenästehtik hervorgerufene - Bedürfnisse ist mit Skepsis zu begegnen. (vgl. Gronemeyer 1988) Die Komplexität möglicher Wirkungen bei der Erreichung von Z muss nicht nur im Feld der Werbung sondern ganz generell bei angestrebten Ziel-Wirkungszusammenhängen bedacht werden. 

Angehörge von Z sind sich selten der ihnen zugeschriebenen Eigenschaften voll bewußt. Sie nehmen kaum wahr, dass sie als Angehörige von Z. gesehen werden und dass bei ihnen bestimmte Wirkungen erreicht werden sollen. Z werden definiert, sie definieren sich selten selbst und sind häufig Ergebnis einer interessengeleiteten Zurechnung. Weder die Angehörigen der Zielgruppen der werbenden Wirtschaft noch diejenigen von Sozial- und Kulturarbeit sind sich über derartige Zuordnungen völlig im Klaren.

In einer komplexen medienvermittelten Gesellschaft sind alle Institutionen - nicht nur die warenproduzierende Industrie - darauf angewiesen, Zielgruppen für ihre Leistungen und ihre Öffentlichkeitsarbeit zu bestimmen. Öffentlichkeitsarbeit, public relations zielt darauf ab die Beziehungen von Institutionen zu einer vielschichtigen Öffentlichkeit zu gestalten. Fragen, die hierbei beantwortet werden müssen sind u.a. Welches Bild meiner Institution möchte ich wem vermitteln? Entspricht dieses Profil der inneren Realität meiner Institution, ist es glaubwürdig? Welche Reichweite soll die Öffentlichkeitsarbeit haben? Über welche Wege sollen die Z angesprochen werden? Welche Medien sollen dazu gewählt werden? Welche Personen dienen als Multiplikatoren? Welche Wirkungen sollen bei den Z erreicht werden? (Neises 2002, Faulstich 2000, Pfannendörfer 1995)

Z der Sozialarbeit/Sozialpädagogik, die Unterstützung und Hilfe durch das Gesundheitswesen, das Sozialwesen oder die Jugendhilfe erhalten sollen, werden meist aufgrund pscho-sozialer Problemlagen bestimmt. Mit dieser defizitorientierten Z-Defintion ist die Gefahr der Stigmatisiersierung und der zusätzlichen Schwächung von Handlungsfähigkeit verbunden. In den vergangenen Jahren hat dagegen ein Paradigmenwechsel hin zu kompetenzorientierten Z-Definitionen eingesetzt. Hierdurch wird dem Sachverhalt Rechnung getragen, dass auch Menschen, die sich in schwierigen Lebenslagen befinden, über Stärken verfügen, die die Grundlage für eine Problembewältigung darstellen können. In präventiven Handlungsfeldern steht entsprechend die Stärkung von Kompetenzen im Vordergund. Die Sozialarbeit/Sozialpädagogik kennt unterschiedliche Bezeichnungen ihrer Z: Klienten, Besucher, Nutzer, Bewohner, Teilnehmer u.a. . Deutlich wird, dass jeder dieser Begriffe ein anderes Setting, eine andere Rollenzuweisung und eine andere Beziehung zum professionellen Hilfesystem impliziert. 

Für viele Felder der Sozialarbeit, wie z.B. die Jugendhilfe ist es von Bedeutung, ob die Angehörigen einer Z als Mitglieder eines sozialen Feldes oder isoliert als Fälle wahrgenommen werden. Schwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen lassen sich kaum als Problemlagen nur eines einzelnen Individuums verstehen. Stattdessen kommt es für eine erfolgreiche professionelle Unterstützung darauf an, das gesamte Umfeld, die Familie, die gleichaltrigen Freunde, die Schule usw. in Problemlösungen einzubeziehen. Erfolgreiche Prävention muss die Handlungskompetenzen sozialer Felder stärken.

Im Zuge der Verwaltungsreform und der ergebnisorientierten Steuerung des Verwaltungshandelns setzen sich in den meisten Feldern sozialer Arbeit neue Steuerungsmodelle durch.(vgl. KGST 1991 und 2001) Stichworte, die diese Entwicklung kennzeichnen, sind die Definition von Produkten und Leistungen, die Kosten- und Leistungsrechnung, das Qualitätsmanagement, die dezentrale Ressourcenverantwortung u.a. . Angehörige von Z sozialer Arbeit und Sozialpädagogik werden herbei zu Kunden. Auch diese Beschreibung von . impliziert Settings und Rollenzuschreibungen. Einerseits werden Kunden mit ihren Wünschen und Bedürfnissen in den Mittelpunkt gestellt, wird ihnen Wahlfreiheit zugestanden („König Kunde“). Andererseits muss gefragt sich, ob gesellschaftliche, institutionelle und professionelle Interessen tatsächlich soweit zurücktreten können, dass die Wahl des Kunden-Begriffes mehr als einen Euphemismus darstellt. Wenn zudem definiert wird, dass derjenige Kunde ist, der eine Leistung bezahlt, ergibt sich für freie Träger, u.a. auch für Theatergruppen eine Unklarheit, wer eigentlich Empfänger der Leistungen ist: die Kinder, Jugendlichen, Senioren usw. oder die finanzierende Organisation?

Der gewachsene Bedarf an Z-Defintionen hängt eng mit den Interessen von Verwaltungen und Trägern zusammen, Leistungen und Kosten produktförmig zu ordnen und über Steuerung gezielt Wirkungen bei definierten Personengruppen zu erzielen. Hierbei zeigt sich eine Neigung, auch Aufgabenfelder mit unspezifischen Z-Definitionen, die nicht auf Einzelpersonen sondern auf soziale, sozio-kulturelle Felder oder allgemein z.B. auf Kinder und Jugendliche abzielen, zu veranlassen ihre Zielgruppen und die erwünschten Wirkungen produktförmig zu definieren.

Im Unterschied zur Sozialen Arbeit ist der Begriff der Z im Bereich der professionellen Kunst-Kultur bislang weniger zentral. Dies bedeutet jedoch nicht, dass z.B. die am Theater Tätigen sich im Unklaren über ihre Besucher und beabsichtigte Wirkungen wären. In der Regel wissen auch Kulturinstitutionen, wen sie mit ihrem Programm ansprechen möchten und welche Wirkungen sie anstreben. Diese Wirkungen intendieren jedoch im Bereich der Kunst - neben der Unterhaltung – eher kritische Ziele. Die Zuschauer sollen sich mit ihrer Realität, ihren Lebensverhältnissen und deren ästhetischer Verarbeitung befassen. Sie sollen Selbstverständlichkeiten hinterfragen und verunsichert werden. Theaterpädagogik im Rahmen von Sozialarbeit/Sozialpädagogik strebt dagegen meist an, eher positive, stärkende Effekte für die Persönlichkeitsentwicklung und das soziale Feld ihrer Z. zu erreichen. 

Z der Theaterpädagogik sind u.a. Kinder, Jugendliche, Familien, Schulklassen, Kitagruppen, Senioren, Inhaftierte, Menschen mit Behinderungen, Obdachlose, Auszubildende. Hierbei erfolgt die Definition von Z gewöhnlich durch die jeweiligen institutionellen Handlungsfelder des Sozialwesens, der Jugendhilfe, des Gesundheitswesens, der Schule oder des Kulturbereiches. Entsprechend ist Theaterpädagogik Teil des jeweiligen Angebots- und Methodenrepertoires. Hierbei kann es sich auch um ein Spannungsverhältnis handeln, wenn z.B. in einem eher bevormundenden Kontext theaterpädagogische Förderung von Vitalität, Kreativität und Phantasie angestrebt wird. 

Um in einem pädagogischen Sinne erfolgreich zu wirken, ist es notwendig, Angebote und Methoden im Hinblick auf die Z einzupassen. Hierzu gehört eine Vergewisserung über die Wünsche, Interessen und Bedürfnisse der Gruppe mit der gearbeitet werden soll sowie die Bestimmung zielgruppengemäßer Methoden. Zentral ist die Berücksichtigung der lebensweltlichen Erfahrungen der Z damit ein nachhaltiger Zugewinn an Handlungsfähigkeit erreicht wird. Für sozio-kulturelle Handlungsfelder wie die offene Jugendarbeit wird verstärkt Exploration gefordert um die Lebenswelt der Z und die Bedingungen des sozialen Raum besser berücksichtigen zu können.(vgl. Projektgruppe WANJA 2000) Auch die Rahmenbedingungen und objektiven Gegebenheiten unterscheiden sich zu je nach Z . Theaterarbeit mit Kitagruppen wird demnach einen anderen Charakter haben als diejenige mit obdachlosen Jugendlichen oder mit Inhaftierten. 

Der Erfolg theaterpädagogischer Arbeit ist auch abhängig von einer zweckmäßigen Öffentlichkeitsarbeit. Gerade wenn Mitwirkende nicht direkt über stark strukturierte Zusammenhänge in Kita und Schule angesprochen werden, lohnt es sich zu planen auf welche Weise die gewünschte Z, z.B. theaterinteressierte Jugendliche am besten angesprochen werden kann und welche Personen und Institutionen als Multiplikatoren genutzt werden können. Für die Planung von besonderen Ereignissen wie z.B. einer Premiere sollte frühzeitig eine angemessene Öffentlichkeitsarbeit berücksichtigt werden. Dann gehören zur Z meist nicht nur die ummittelbar Mitwirkenden sondern auch ihr Umfeld, die Familien, die Nachbarn, die Freunde, die Kollegen bis hin zu Vertretern der fördernden Institutionen und der Medien.

Literatur:

Jochen Becker: „Das Marketing Konzept – Zielstrebig zum Markterfolg“, München 2002

Ludwig Berekoven: Grundlagen des Marketing, 5.Aufl. Berlin 1993

Axel Dammler: „Marketing für Kids und Teens: Wie Sie Kinder und Jugendliche als Zielgruppe ansprechen“, Landsberg/Lech 2000

Faulstich, Werner: "Grundwissen Öffentlichkeitsarbeit", Stuttgart 2000

Gronemeyer, Marianne: "Die Macht der Bedürfnisse", Reinbeck 1988

Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung - KGST - (Hrsg):
a) "Dezentrale Ressourcenverantwortung - Überlegungen zu einem Neuen Steuerungsmodell", Köln 1991
b) "Zehn Jahre Verwaltungsreform - Neues Steuerungsmodell", Köln 2001

Neises, Gerd: "Öffentlichkeitsarbeit im sozialen Bereich", Stuttgart 2000

Projektgruppe WANJA: „Handbuch zum Wirksamkeitsdialog in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit“,  Münster 2000 

Hans-Jürgen Rogge: „Werbung“, Ludwigshafen 1988
 

Erscheint Ende 2003 im "Wörterbuch der Theaterpädagogik" (Hrsg. Gerd Koch/Marianne Streisand)